In Brasilien wird Clarice Lispector (1920-1977) als Ikone verehrt, nach der Hotels und Straßen benannt werden. In Deutschland ist sie kaum bekannt. In der Ukraine geboren, wanderte sie als Kind russisch-jüdischer Eltern nach Lateinamerika aus. Mit ihrem Mann, einem Botschafter, bereiste sie Europa und die USA. Die zweibändige Gesamtausgabe der Kurzprosa (Band 2 erscheint im Herbst 2020) ist eine (Wieder-)Entdeckung der hochkarätigen Autorin (vgl. ID-B 11/16). Frauen in ihrer alltäglichen Seelennot stehen im Mittelpunkt. Ein neunjähriges Mädchen etwa, das in seinen Lehrer verliebt ist, ihn aber außerordentlich provoziert. Eine perfekte Hausfrau und Mutter, die in der titelgebenden Geschichte plötzlich einen Tag im Bett bleibt und von einem anderen Leben träumt. Eine gut situierte Frau wird beim Anblick eines Blinden aus der Bahn geworfen und zweifelt an ihrem Dasein. Es sind geheime, vielleicht sogar lapidare Konflikte, die die Heldinnen jedoch zutiefst quälen. Lispector berührt durch eine facettenreichen Charakterzeichnung. Ab mittleren Beständen wärmstens empfohlen - SWR-Bestenliste Dezember Platz 1. ( )